Auszug aus dem Buch

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«In mir wuchs Gleichgültigkeit. Ein Tanzverbot am Silvesterball respektierte ich nicht, was vermerkt wurde, auch dass ich mit dem Pfleger öfter tanzte, der mir verboten war, da ich mich fröhlich mit ihm unterhalten konnte. Nur kurz, dann gehorchte ich, das Diplom war mir wichtig. Bevor Verena Kuhn-Gebhart in die Ferien fuhr, verschrieb sie mir zwei bis drei Ampullen Tofranil. Da nach 14 Tagen keine positive Wirkung zu spüren war, zusätzlich drei Mal zwei Tabletten täglich. Die Träume waren intensiv, aber keine Alpträume. Nachträglich stellte ich so etwas wie Voraustraum fest: «Ich war unterwegs in der Innerschweiz, musste mich aus Gestrüpp freikämpfen, konnte aber nicht nach Münsterlingen zurück.» 

Jetzt, während ich dies schreibe, weiss ich, wie ich damals auf Andere gewirkt haben muss. Langsame Körperbewegungen, langsames Denken und Antworten. Ein Gehen auf Wolken, in Watte gepackt, unberührt, unberührbar, blind für die Zusammenhänge, naiv freundlich, gleichgültig Übergriffe geschehen lassend, eine aufgezogene Marionette, ein «so ist das», wunschlos, zum Voraus ins Negative gekämpft. Hören wie aus weiter Ferne. Den Kern treffe ich nicht.

Auszug aus den Therapie-Protokollen von Verena Gebhart
Quelle: Staatsarchiv Thurgau

Vorgesetzte

Gehorsam gehörte zu den wichtigsten Wörtern im Vokabular der Oberschwester, eine grosse, starke Bündnerin, ihre Visiten waren ein Gewitter. Sie liess sich begleiten von ihrem schwarzen Königspudel, der gelangweilt den Gerüchen Ehre erwies. Schwester Mathilde spielte die Liebenswürdige, schnell fiel der Putz ab. Sie hielt den Kopf leicht schräg und ich fühlte mich mit schiefem Blick durchleuchtet. Mit Vorsicht mochte ich sie in der ersten Zeit. Später ging ich ihr aus dem Wege, fürchtete und verwünschte sie.

Der Chefarzt Roland Kuhn, ein etwas steifer Herr, auch er schien genau hinzusehen, wen er vor sich hatte. Von ihm fürchtete ich seinen Röntgenblick, in seiner Literaturstunde erlebte ich ihn lockerer. Seine Erläuterungen zu den Texten von Gotthelf, Rilke und Glauser brachten mich zum Staunen und mit Neugier zum Lesen. Ich begann, nicht nur Buchstaben zu sehen, verstand zu kombinieren, zu vertiefen, mehrschichtig zu lesen.

Verena Gebhart lernte ich kennen, als Psychotherapie zu meinem Alltag wurde. Auch sie war für mich die Verkörperung steifer Zurückhaltung. Ihrer Freundlichkeit konnte ich nicht glauben.

Langsam kannte ich zumindest die Namen meiner Kolleginnen. Elisabeth war Stationsschwester und für mich zuständig. Sie nahm mich mit auf Velotouren zur Kirche von Birnau oder nach Meersburg zum Wohnort von Annette Droste-Hülshoff, deren Gedichte ich las. 

Illustration: Bettina Dickmann Surber
(Copyright Concept Transformation GmbH)

Die blühende Insel Mainau war unser Ausflugsziel zum Mittagessen an schönen, freien Tagen. Bei Elisabeth fühlte ich mich wohl, sie kritisierte und kontrollierte nicht, nur wenig musste sie korrigieren. Unser Altersunterschied betrug sicher zwanzig Jahre. Ich habe sie in sehr guter Erinnerung, weil ich die sein durfte, die ich war. Ihre Art erinnerte mich an meine Tante.

Leider war das «Benimmkorsett» noch enger als in einem Pensionat. Vor 6 Uhr morgens hatte ich korrekt gekleidet und gepflegt anzutreten. Drei Wecker und vier Glas Eiswasser halfen mir, den Tag mit offenen Augen in Angriff zu nehmen. Doch immer wieder kam ich um zwei Minuten zu spät. Den Titel «faul, minimalistisch, bequem» erhielt ich in kurzer Zeit. 

Ich wagte nicht mehr, ins Bett zu gehen. Verschlafen sei rücksichtslos, hiess es. Beim Eindunkeln klopfte eine Krähe oder ein Rabe an das Fenster unserer Mansarde. Eine ältere Patientin hörte mit Grauen, wie ich davon erzählte. Der Bote des Todes und des Himmels klopfte an mein Fenster.

«Geigy rot» und Gespräche

Illustration: Bettina Dickmann Surber
(Copyright Concept Transformation GmbH)

Die Oberschwester beobachtete mich und fand, ich sei depressiv.  Sie orientierte den Chefarzt. Dieser schlug Gespräche mit mir vor. Das Schicksal der Patientinnen sei belastend für mich, ich wirke desorientiert. Er verschrieb mir zwei Tabletten Tofranil, das sogenannte «Geigy rot» täglich und eine Traumanalyse.

In der Tat, ich fühlte mich überfordert, bummelte bei der Arbeit, behinderte dabei meine Kollegin, vergass Patientinnen zu pflegen. Immer wieder fragte ich mich, ob ich am rechten Ort sei. Verena Gebhart hörte mir zu. Als Therapie schlug sie eine Traumanalyse vor. Die ersten Versuche mit «Geigy rot» schluckte ich. Sie gaben meinem Traum, Psychiatrieschwester zu werden, eine Chance, die ich freudig ergriff.

In den Gesprächen war nicht nur meine Befindlichkeit, sondern auch meine Lektüre wichtig. Ich gab zu, Romane von Schweizer Autoren zu lesen, aber mein Interesse galt auch der Ethnologie, Archäologie und der Geschichte. Die Therapeutin meinte, ich könne den Unterschied zwischen den Autoren Antoine de St. Exupéry und Theodor Munth nicht erkennen. 

Sie empfahl mir gegen die Ideenflucht, nicht Biografien zu lesen, sondern mich auf den Alltag zu konzentrieren.

Auszug aus den Therapie-Protokollen von Verena Gebhart
Quelle: Staatsarchiv Thurgau

Test für Mutter

Freie Tage verbrachte ich oft zu Hause und erlebte meine Mutter niedergeschlagen, müde. Ich sprach mit Verena Gebhart über meine Bedenken. Sie gab mir 50 Tofranil und empfahl einen Arzt. Später konnte ich Verena Gebhart melden, meiner Mutter gehe es besser, sie brauche keine Tabletten mehr. Auch bei dieser grosszügigen Geste von Roland Kuhn dachte ich nicht an Tests.

Auszug aus den Therapie-Protokollen von Verena Gebhart
Quelle: Staatsarchiv Thurgau

Meine Eltern besuchten mich, sie konnten meine Umgebung kennenlernen und waren beruhigt. Sie äusserten keine Einwände mehr gegen die Lehre.

Im Sommer am See war jeden Tag ein Ferientag. Am Ufer ausserhalb des Areals stand eine alte Trauerweide. Tief liess sie ihre hellgrünen Haare ins Wasser hängen. Durch diesen Vorhang glitzerte das Wasser und schlug mit kleinen Wellen ans Ufer. 

Dies war mein Lieblingsplatz, wenn ich aus der Enge, dem Alltag entfliehen musste. In den Armen der Trauerweide durften Tränen fliessen. Schwäne legten sich mühsam auf die Wiese, um ihr Federkleid zu pflegen oder zu schlafen.

Illustration: Bettina Dickmann Surber
(Copyright Concept Transformation GmbH)